„Wir wissen es noch nicht.“ Wenn ganz klare Dinge auf einmal unklar werden.

© Gerda Janssen-Schmidchen

Du bist schwanger oder ihr habt gerade Nachwuchs bekommen? Herzlichen Glückwunsch und alles Gute für dich bzw. euch und euer Kind.

Wahrscheinlich habt ihr dann auch die Erfahrung gemacht, dass die erste Frage das Geschlecht eures Kindes betraf. „Wisst Ihr schon, was es wird?“ und „Was ist es denn?“ gehören zu den ganz normalen Fragen, wenn es um Schwangerschaft und Babys geht.

Vielleicht habt ihr einem Arzt bei einer Untersuchung oder eurer Hebamme die Frage gestellt. Oder ihr selbst habt diese Frage von anderen Menschen in Eurem Umfeld gestellt bekommen. Wir reden viel über Gleichberechtigung und darüber, dass uns eigentlich nur die Gesundheit des Nachwuchses am Herzen liegt. Doch das Geschlecht scheint uns sehr wichtig zu sein.

In der Regel erfolgt als Antwort ein „Es ist ein Mädchen.“ oder „Es ist ein Junge“. Manchmal laufen die Dinge jedoch anders und die Antwort müsste dann lauten: „Wir wissen es noch nicht.“

Was ist denn das für eine Antwort: „Wir wissen es noch nicht.“? Das weiß man doch! So vermuten viele Menschen. Grundsätzlich stimmt das auch. Doch manchmal geschieht es, dass das Geschlecht eines Kindes von der erwarteten Norm abweicht und anders aussieht. Zumindest anders, als man es in der Regel bei einem Jungen oder einem Mädchen kennt.

Diagnose Intersexualität – heute als eine Variante der Geschlechtsentwicklung anerkannt

In diesen Fällen spricht man von einer Variante der Geschlechtsentwicklung. Ältere Bezeichnungen sind DSD, von dem englischen Begriff der „Differences of Sex Development“, oder der medizinische Begriff der Intersexualität. In früherer Zeit sprach man von Hermaphroditen.

Eine Variante der Geschlechtsentwicklung oder DSD, bedeutet nicht, dass ein Kind krank ist oder eine Behandlung benötigt. Dennoch müssen verschiedene Dinge untersucht und abgeklärt werden. Zum einen möchten alle sicher sein, dass wirklich alles mit dem Baby in Ordnung ist.

Zum anderen hoffen alle, dass man vielleicht einen tieferlegenden Grund für diese Ausnahme der Regel findet. Natürlich haben auch diese Kinder ein Geschlecht, nur ist es nicht klar durch äußere oder auch innerliche Aspekte erkennbar und bestimmbar.

Bei Schwangeren oder frischgebackene Eltern, die ein „Wir wissen es nicht“ von Gesundheitsfachkräften hören, kann dieser kleine Satz große Unsicherheiten und Ängste auslösen. Sie machen sich Sorgen um die Gesundheit ihres Babys und was jetzt auf sie zukommt. Viele sind auch verunsichert, schließlich hat man Pläne, Hoffnungen, Wünsche rund um den Nachwuchs. Nun scheint die Zukunft unsicher.

Die Sorge um die Gesundheit ist meist unbegründet

Um es einmal vorwegzunehmen: Kinder mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung (DSD) sind grundsätzlich gesund. Nur in wenigen Fällen ist eine dringend medizinische Behandlung notwendig. In der Regel entwickeln sich diese Kinder genauso wie alle anderen Kinder. Sie haben genau die gleichen Bedürfnisse nach Wärme, Liebe, Anerkennung und Fürsorge ihrer Eltern, wie alle kleinen Menschen.

Etwas anders sind die medizinischen Untersuchungen, die nach einem Verdacht auf eine Variante der Geschlechtsentwicklung gemacht werden. Dazu gehören Dinge wie Ultraschall des Körpers, Blutuntersuchungen der Genetik und der Hormone oder ähnliche Dinge. Diese Daten werden zur Erstellung einer genauen Diagnose benötigt.

Einige dieser medizinischen Untersuchungen werden sehr schnell nach einer ersten Verdachtsdiagnose gemacht. Grundsätzlich sind sie jedoch nicht dringend und können warten. Schließlich möchten sich Eltern und Baby erst einmal richtig kennenzulernen und das Leben als Familie leben lernen. Diese erste aufregende Zeit mit all seinen Veränderungen ist für alle Beteiligten sowie für die Zukunft wichtig und nicht zu wiederholen.

Diagnosen und Untersuchungen können Klarheit bringen

Manche Eltern eines Kindes mit einer DSD fragen sich, warum es diese vielen Untersuchungen gibt und wozu sie gut sind. Dazu muss man wissen, dass die Bezeichnung „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ eigentliche ein Begriff ist, hinter dem sich eine Vielzahl unterschiedlicher Diagnosen verbergen.

Je genauer die Diagnose durch verschiedene Untersuchungen erstellt werden kann, desto genauer wird das Bild über die eventuelle Entwicklung des kleinen Menschen sein. Oder anders gesagt, je besser die Ergebnisse einer Untersuchung, desto besser ist der Blick in die wahrscheinliche geschlechtliche Zukunft des Babys.

Diese Unsicherheiten rund um das eigene Kind können für eine werdende Mama oder für frischgebackene Eltern erst einmal beunruhigend sein. Man hat sich alles anders vorgestellt und jetzt kämpft man mit Gefühlen, wie Traurigkeit oder Angst.

Diese Situation ist für jeden von uns menschlich nachvollziehbar, auch wenn die meisten von uns nie mit dem Thema zu tun haben werden. Hilfreich sind in dieser Zeit Gespräche. Entweder mit einer vertrauen Person oder mit Menschen, die sich im Thema auskennen.

Unterstützung bieten spezialisierte Beratungsstellen, von denen es leider wenige gibt. Eine andere Möglichkeit sind Selbsthilfegruppen. Der Austausch mit anderen Eltern kann ein Mutmacher sein. Insbesondere, wenn ähnliche Erfahrungen gemacht wurden. Eltern mit älteren Kindern, die zwischen den Geschlechtern geboren wurden, könnte man als echte Alltags-Experten bezeichnen, die eine besondere Form der Unterstützung bieten.

Recht auf Geschlecht – welche Optionen gibt es?

Zu den praktischen Fragen nach einer Geburt gehören Dinge, wie die Standesamtliche Meldung des neuen Erdenbürgers. In der Vergangenheit war das etwas schwierig, wenn man das Geschlecht eines Kindes noch nicht benennen konnte.

Zum Glück gibt es seit einigen Jahren verschiedene Optionen für den Eintrag in die Geburtsurkunde und als Eltern hat man die Wahl. Es muss kein „weiblich“ oder „männlich“ eingetragen werden. Man kann den Geschlechtseintrag genauso „offen“ lassen oder auch einen Geschlechtseintrag „divers“ eintragen.

Sollten Eltern oder das Kind später eine Änderung des ersten Registereintrages wünschen, ist sogar das bei einer Variante der Geschlechtsentwicklung ohne großen Aufwand möglich. Natürlich kann in diesem Zusammenhang auch der Name neu gewählt werden, wenn man dies möchte.

Davon abgesehen steht es Eltern frei, in welchem sozialen Geschlecht sie ihr Kind erziehen wollen. Ein Kind, dessen Geschlecht nicht eindeutig als weiblich oder männlich eingeordnet werden kann, könnte beispielsweise in einem sozialen weiblichen Geschlecht erzogen werden, selbst wenn der rechtliche Personenstand offen gelassen wurde. Das macht es für einige Eltern einfacher, wenn das Kind noch sehr klein ist, Untersuchungen ausstehen oder sie das Umfeld noch nicht aufklären möchten.

Offensiver Umgang – auch eine (gute) Möglichkeit

Es gibt jedoch auch Eltern, die lieber offensiv mit dem Thema umgehen. Dann könnte man als Antwort auf die Frage „Was ist es denn?“ durchaus eine Antwort bekommen, die da lautet: „Wir wissen es noch nicht. Es kann noch nicht sprechen und uns darüber etwas erzählen!

Dieses war nur ein kleiner Ausflug in die Welt der Varianten der Geschlechtsentwicklung. Diese Welt wurde von einer Mutter einmal als „Reise in ein fremdes Land mit einer ganz anderen Kultur“ beschrieben und ich finde, das trifft es gut. Das Thema hat viele Seiten, so dass man tagelang durch dieses Land laufen und neue Dinge entdecken kann. Und darüber könnte man noch manch bunten Beitrag schreiben.


Gerda Janssen-Schmidchen ist ausgebildete Mediatorin und Konfliktberaterin und seit Oktober 2020 für die Inter-Beratung Bremen tätig.

Bei der Inter-Beratung erhalten betroffene Menschen als auch Eltern, An- und Zugehörige, wie auch Personen, die beruflich mit dem Thema Inter* in Berührung kommen, eine unabhängige, wertschätzende, ergebnisoffene, anonyme und kostenlose Beratung auf Augenhöhe zu allen Fragen der Varianten der Geschlechtsentwicklung.