Kein Tabu: Kindeswohlgefährdung in Neonazi-Familien

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Hast du dich auch schon mal gefragt, wie du als Erzieher*in mit einer Neonazi-Familie in deiner Gruppe umgehen sollst? Ich* (Name der Redaktion bekannt) habe mich das vor einigen Jahren gefragt und hatte keine gute Antwort darauf. Dieser Gedanke verunsicherte mich und ich beschloss, mich intensiver mit dem Thema auseinanderzusetzen, mich fortzubilden und Antworten auf einige Fragen zu finden.

Wie werden Kinder in einer Neonazi-Familie erzogen?

Es gibt kein einheitliches Erziehungsideal in der extremen Rechten, doch viele haben das Ziel, den Nachwuchs ideologisch zu erziehen. Oft werden rechtsextreme Erziehungsratgeber hinzugezogen, die häufig eine bindungsarme Pädagogik empfehlen, in der Bindung und Zuneigung verwehrt werden. Bekannte Erziehungsratgeber aus der NS-Zeit, wie z.B. „Die deutsche Mutter und ihr Kind“ von Johanna Haarer oder von Mathilde Luddendorff, der Gründerin der antisemitischen und völkischen Bewegung „Bund der Deutschen Gotterkenntnis“, finden gerade in diesem Zusammenhang heute noch Verwendung.

Es wird nicht angestrebt, dass die Kinder sich frei entfalten und eigene Interessen entwickeln können, vielmehr sollen die Kinder in die rechtsextremen Fußstapfen der Eltern treten. Die Erziehung vieler Neonazi-Familien ist sehr autoritär und gemeinsame Ideale sind Härte, Disziplin, Gehorsamkeit, Treue, Kameradschaft und Pflichtbewusstsein.

Den Kindern wird schon früh Angst durch Erzählungen von angeblichen Bedrohungsszenarien, Katastrophen oder Kriegsfahr gemacht. Am Beispiel der völkischen Siedler*innen ist das besonders gut zu erkennen. Die Lösung für die andauernden „Bedrohungen“ wird lediglich in der „Volksgemeinschaft“ gesehen. Mehr Informationen zu „Völkischen Siedlern“

Filmtipp:  „Kleine Germanen“
Die neuen Rechten und ihre Kinder (Dokumentation Kulturjournal, verfügbar bis 31.01.2023)

Welche Anzeichen auf ein Heranwachsen in einer Neonazi-Familie gibt es?

Erzieher*innen und Lehrkräfte nehmen Kinder aus Neonazi-Familien oft als sehr ruhig wahr und berichten, dass sie ohne Einwände reagieren, fast schon „spuren“ würden. Häufig sind diese Kinder sehr gut erzogen, wirken aber überaus angepasst und eingeschüchtert. Den Kindern gelingt es durch die entgegengesetzten Erfahrungen von Zuhause und in der Kita nicht immer, sich unauffällig zu verhalten. Die unterschiedlichen Bereiche der Sozialisation sind für die Kinder nicht miteinander zu vereinen, was sie überfordern kann. So kann es unter anderem zu Loyalitätskonflikten kommen.

Den Kindern wird der Zugang zu unterschiedlichen Lebenswelten gezielt verwehrt. Wenn sie dann aber in die Kita oder Schule kommen, müssen sie plötzlich, in der als Feindbild bezeichneten demokratischen Gesellschaft, klarkommen. Die Eltern verpflichten sie zur Geheimhaltung, es soll nichts von Zuhause oder aus dem Familienleben erzählt werden.

Durch das Spielverhalten der Kinder wird häufig bemerkbar, wie die Kinder aufwachsen. Manche Kinder äußern zum Beispiel, dass sie nur mit bestimmten Kindern spielen möchten, da sie diese Regel von Zuhause auferlegt bekommen. Andere Kinder malen (auch verbotene) Runen oder reproduzieren in Rollenspielen rassistische Äußerungen von Zuhause.

Ältere Kinder aus neonazistischen Familien werden häufig dazu aufgefordert, in der Schule die Konfrontation zu suchen und ihre Ideologie zu vertreten. Gewalt ist dabei allgegenwärtig und wird vor allem von Jungen erwartet. Dadurch soll u.a. ihre „Wehrbereitschaft“ gefördert werden und eine Form der Härte Ausdruck finden.

Wie kann sich eine Kindeswohlgefährdung speziell in einer Neonazi-Familie äußern?

Das Erklärvideo der Fachstelle Rechtsextremismus und Familie gibt einige besondere Hinweise auf Kindeswohlgefährdungen, die speziell in Neonazi-Familien vorkommen können:


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Ein Hinweis kann sein, dass die Kinder gedrillt werden und zum Beispiel lange Gewaltmärsche auf sich nehmen oder physische und psychische Gewalt (mit-)erleben müssen. Auch der autoritäre Erziehungsstil, der durch klare Hierarchien geregelt ist, kann ein Hinweis auf eine Kindeswohlgefährdung sein. Beispielsweise wenn es zu Erniedrigungen der Kinder oder entwürdigenden Erziehungsmethoden kommt. Die Kinder sollen durch zu wenig Nahrung und zu dünner Kleidung „abgehärtet“ werden.

Auch ob die Kinder Zugang zu schulmedizinischer Versorgung haben, kann ein Hinweis für eine mögliche Kindeswohlgefährdung sein. Spätestens seitdem ein vierjähriges Mädchen in Sachsen-Anhalt an Diabetes gestorben ist, weil die Eltern ihrer Tochter aus ideologischer Überzeugung kein Insulin gaben, muss dieser Hinweis Beachtung finden.

Die Indoktrination von menschenfeindlichen Vorstellungen und die gewaltvolle Erziehung haben erhebliche Auswirkungen auf die Sicht der Welt, ihr Verhalten in der Gesellschaft und die Entwicklung der Kinder. In der Broschüre „Funktionalisierte Kinder“ gibt es Hilfestellungen explizit für Fachkräfte aus den Bereichen Recht und (Sozial-) Pädagogik.

Wie kann ich mit so einem Fall umgehen?

Kindeswohl im Blick: Ich habe gelernt, dass es wichtig ist, den Zugang zu den Kindern nicht zu verlieren und ihr Wohl immer im Blick zu behalten. Schließlich können Kinder im Kindergarten und in der Grundschule sehr gut demokratische Prozesse, Partizipation und Diversität erleben – und davon lernen. Dadurch wird den Kindern, auch für ihr Erwachsenenleben, eine Alternative aufgezeigt.

Schutz & Schutzkonzepte: Zudem geht es auch um den Schutz der anderen Kinder, die eventuell (rassistische/ antisemitische) Diskriminierungen durch die neonazistisch geprägten Kinder oder deren Eltern erfahren. Mit den Kolleg*innen, die dem Feindbild der Familie entsprechen oder als politische Gegner*innen ins Visier geraten und Drohungen erhalten, sollte sich solidarisiert werden. Da kann es hilfreich sein, über Schutzkonzepte im Team zu sprechen.

Kollegiale Beratung: Kollegiale Fallberatung und auch Supervision können dem Team helfen, einen Umgang damit zu finden und die Situation zu reflektieren. Durch eine Anpassung des Leitbilds, in dem die demokratischen Werte der Einrichtung festgehalten werden, haben die Fachkräfte eine Grundlage, um bei menschenfeindlichen Äußerungen klare/deutliche Grenzen zu setzen.

An wen können sich diese Fachkräfte, z. B. aus Kita oder Schule, in solchen Fällen in Bremen wenden? Wo gibt es Informationen und Beratung? Wie reagiere ich?

Generell ist es immer wichtig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und sich Wissen anzueignen. Dadurch können Situationen eingeschätzt und bewertet werden. Die eigene Sicherheit und die des Teams sollte mitbedacht und eventuell Maßnahmen ergriffen werden, zum Beispiel, die eigene Meldeadresse sperren zu lassen, um Bedrohungen per Post oder vor der eignen Haustür vorzubeugen.

Es gibt bundesweite Beratungsstellen, an die sich Fachkräfte wenden können. Durch die Beratung kann die eigene Handlungsfähigkeit gestärkt werden und auch eine langfristige Unterstützung ist möglich. Bei Unsicherheiten und Fragen gibt es entsprechende Beratungsangebote von Expert*innen auch für Eltern oder Angehörige.

Beratungsstellen für Angehörige, Interessierte und pädagogische Fachkräfte:

>> Fachstelle Rechtsextremismus und Familie (RuF)
Beratungen für Familien, Angehörige und für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, die mit rechtsextremen Familien konfrontiert sind und nach Unterstützung und Handlungsmöglichkeiten suchen. Zu den Zielgruppen gehören u.a. Kindertagesstätten, Mitarbeiter*innen aus Jugendämtern, Erziehungsberatungsstellen, Hebammen und Kinderschutzzentren.

Tipp: Weiterbildung für Fachkräfte
In 2023 bietet die Fachstelle RuF eine modulare Weiterbildung für Fachkräfte an:
„Beratung im Kontext Rechtsextremismus und Familie“ 2023

>> Sichtwechsel (Bremen)
Die Ausstiegs- und Distanzierungsberatung richtet sich an Fachkräfte, Bezugspersonen und Interessierte.

>> perspektive ausstieg – Verein für Demokratieförderung und Rechtsextremismusprävention e.V.
Das Angebot der zivilgesellschaftlichen Distanzierungs- und Ausstiegsberatung des Landes Bremen richtet sich an Personen, die aus extrem rechten Strukturen aussteigen möchten oder sich im Prozess der Auseinandersetzung befinden.

>> Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus Bremen und Bremerhaven
Beratung und Unterstützung bei allen Fragen und Anliegen in den Bereichen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus sowie allen Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in Bremen und Bremerhaven.

>> Hilfen für Eltern und Angehörige von rechtsextrem orientierten Jugendlichen (Fachstelle RuF)
Einrichtungen aus dem Landesberatungsnetzwerk bieten Informationen und Beratungen für hilfesuchende Eltern und Angehörige, rechtsextrem orientierter Jugendlicher an.

Bundesweite Informationen und Beratung:

>> Fachstelle Rechtsextremismus und Familie
Beratungen für Familien, Angehörige und für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, die mit rechtsextremen Familien konfrontiert sind und nach Unterstützung und Handlungsmöglichkeiten suchen. Zu den Zielgruppen gehören u.a. Kindertagesstätten, Mitarbeiter*innen aus Jugendämtern, Erziehungsberatungsstellen, Hebammen und Kinderschutzzentren.

>> Broschüre „Das Versteckspiel“
Mehr Informationen zu Lifestyle, Symbole und Codes von Neonazis und extrem Rechten.

>> Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt
Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt finden Beratung und Unterstützung in allen Bundesländern. Die professionelle Beratung und Unterstützung der Beratungsstellen richtet sich an direkt und indirekt Betroffene, ihre Angehörigen sowie an Zeug*innen eines Angriffs.

>> Bundesverband Mobile Beratung
Der Bundesverband Mobile Beratung e.V. (BMB) ist der Dachverband von 50 Mobilen Beratungsteams bundesweit, die zum Umgang mit Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Verschwörungserzählungen und Rechtspopulismus beraten.