Wie Beckenbodentraining uns die Chance gibt, unsere stabile Mitte zu finden
Mehr als die Hälfte der Frauen zwischen 30 und 75 Jahren haben schon einmal beim Lachen oder Niesen Urin verloren. Harninkontinenz, auch Blasenschwäche genannt, ist ein in der Gesellschaft weit verbreitetes Krankheitsbild. Etwa 50 Prozent der Frauen leiden darunter, viele von ihnen sind erst zwischen 30 und 39 Jahre alt.
Ein trainierter Beckenboden ist für Frauen die beste Möglichkeit, einer Harninkontinenz vorzubeugen. Aber es wird zu wenig über die Verbreitung von Blasenschwäche in der Gesellschaft gesprochen und die Bedeutung von Beckenbodentraining für die Gesundheit wird einfach noch unterschätzt.
Der Beckenboden ist ein komplexes Geflecht aus verschiedenen Muskeln, das den Bauchraum nach unten hin abschließt. Der Beckenboden stützt die Organe im Bauch und Beckenraum und stabilisiert den unteren Rücken. Außerdem ist die Beckenbodenmuskulatur am Schließmechanismus von Darm und Harnröhre beteiligt.
Eine Beckenbodenschwäche äußert sich in einer Harninkontinenz oder einer Senkung der Blase, der Gebärmutter oder des Darms. Dadurch, dass der Beckenboden nicht mehr stark genug ist, kann die Harnröhre nicht mehr effektiv geschlossen gehalten werden oder die Organe werden nicht mehr ausreichend gestützt und sinken ab.
Um mehr über den Beckenboden zu erfahren, habe ich gemeinsam mit einer Kommilitonin das Beckenbodenzentrum St. Joseph-Stift besucht. Dort haben wir mit Dr. Sabine Gaiser und Dr. Kerstin Volkmer, der ärztlichen Leitung des Beckenbodenzentrums, sowie mit Annika Krüger-Tiefenbach gesprochen, die dort als Physiotherapeutin mit Spezialisierung auf Beckenbodentherapie tätig ist.
Mit welchen Beschwerden kommen Frauen ins Beckenbodenzentrum?
Dr. Sabine Gaiser:
„Wir beraten hier im Beckenbodenzentrum Frauen mit Senkungsbeschwerden und Blasenschwäche. Die Frauen müssen von ihren behandelnden Gynäkolog*innen oder Urolog*innen hierhergeschickt werden und wir führen dann weiterführende Spezialdiagnostik durch, leiten weiter zu bestimmten Behandlungen oder empfehlen Operationen, die wir hier im St. Joseph-Stift durchführen.
Und da die Beckenbodenschwäche und Harninkontinenz Themen sind, die die Frauen vom jungen Alter, meistens ab nach der Entbindung, bis ins hohe Alter begleiten, sehen wir hier auch Frauen jeden Alters. Zur Behandlung der Beckenbodenbeschwerden gehört auch immer die physiotherapeutische Behandlung, kurzum Beckenbodentraining.“
Warum ist es gut, den Beckenboden zu trainieren?
Annika Krüger-Tiefenbach:
„Der Beckenboden muss grundsätzlich trainiert werden – für einfach alles, was wir im Alltag brauchen. Das Gleichgewicht muss da sein, was die Bewegung der Muskulatur im Verhältnis Bauch, Rücken und Beckenboden angeht. Das ist der beste Schutz. Auf alle möglichen Belastungen, ob durch das Älterwerden oder durch Geburten, sollte der Beckenboden bestmöglich vorbereitet sein.
Dazu gehört das Training in einer aufrechten Standposition und in der Bewegung – nicht nur im Sitzen. Weil die Funktion des Beckenbodens einfach so vielschichtig ist, dass wir sonst nicht ausreichend gut und schon gar nicht funktionell trainieren.“
Beckenbodentraining beim Zähneputzen?
Annika Krüger-Tiefenbach:
„Das Klassische, was viele kennen, ist auf einem Bein stehen und Zähne putzen, zwei Minuten morgens und zwei Minuten abends. Diese zwei Minuten putzt man ja ohnehin die Zähne und die kann man dann auch mit Balanceübungen verbringen. Einbeinstand und alles, was das Gleichgewicht herausfordert und die Rumpfstabilität provoziert, fördert auch den Beckenboden.“
Wenn eine Operation das letzte Mittel ist
Dr. Sabine Gaiser:
„Den Frauen, die nach den Wechseljahren mit starken Senkungsbeschwerden oder ausgeprägter Harninkontinenz zu uns kommen, muss ich sagen, dass Beckenbodentraining allein keine Verbesserung mehr bringen wird. Ein Hormonmangel, wie er in den Wechseljahren entsteht, kann durch eine Lokalbehandlung mit Hormoncreme oder Scheidenzäpfchen milde Beschwerden verbessern. Bei ausgeprägten Befunden ist jedoch häufig eine Operation erforderlich.
Allgemein gilt für uns: Eine Operation ist nur bei Beschwerden angebracht und vorher sollten in der Regel alle konservativen Therapiemethoden ausgeschöpft sein. Wir wissen auch, dass eine OP nicht ewig hält.
Es sind in der Regel stützende und stabilisierende Operationen. Für die Blasenschwäche kann man mit kleineren Eingriffen auch schon Erfolge erzielen, wenn man mit einem kleinen Band die Harnröhre stützt. In aller Regel muss man bei einer Senkung den Beckenboden komplett stützen und dabei meist eine komplexere Operation durchführen.“
Ist der Beckenboden denn nur für Frauen ein Thema?
Dr. Kerstin Volkmer:
„Es gibt bei der Frau drei Durchlässe im Beckenboden – die Harnröhre, die Vagina und den After. Bei den Männern gibt es nur zwei. Durch die Vagina und dadurch auch den Geburtskanal als dritte Öffnung sind Frauen mehr gefährdet, eine Beckenbodenschwäche zu entwickeln.“
Ist Beckenbodentraining auch für Männer wichtig?
Dr. Kerstin Volkmer:
„Der Beckenboden des Mannes ist nicht so stark belastet wie bei den Frauen. Die größte Lücke im Beckenboden, die Vagina, ist nicht vorhanden und Männer haben keine Geburten, die den Beckenboden schwächen. Männer bekommen eine Harninkontinenz nicht durch eine Beckenbodenschwäche, sondern in der Regel durch eine Prostataentfernung. Durch diese Operation leidet der Beckenboden, daher wird für die Männer auch ein Beckenbodentraining wichtig.“
Welche Einstellung sollten Frauen zum Beckenbodentraining entwickeln?
Annika Krüger-Tiefenbach:
„Bei der Zahnpflege machen wir uns nie Gedanken, warum das so ist, dass wir unsere Zähne putzen und zweimal im Jahr zum Zahnarzt gehen. Das machen wir, weil wir wissen, das ist notwendig und die Zahnpflege ist das A und O dafür, dass die Zähne gesund bleiben.
Und genauso selbstverständlich muss es sein, bis zum Ende mit unserem Beckenboden zu tun zu haben. Und du hast ihn dabei, du kannst jederzeit überall irgendwie damit arbeiten. Wir müssen selber dieses Selbstverständnis haben, an ihn zu denken und ihn mit anzusteuern.“
Sabrina Muscharski hat ihre Praxissemester beim familiennetz bremen absolviert und im Rahmen ihres Public Health-Studiums an der Universität Bremen gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Sarah Bauder eine Plakatserie zu dem Thema „Blasenschwäche und Beckenbodentraining mit Liebeskugeln“ erstellt. Dafür hat sie viel recherchiert und im März 2022 dieses Interview geführt.
Teil 1/2: Wie Beckenbodentraining uns die Chance gibt, unsere stabile Mitte zu finden. (KW 31)
Teil 2/2: Raus aus dem Wochenbett, rein in die Bewegung! (KW 32)